Hilary Putnam

Referenz und Wahrheit



Tarskis Wahrheitstheorie

Nach dem Thema der Referenz wenden wir uns nun dem der Wahrheit zu. Wir werden mit der Arbeit von Alfred Tarski beginnen (1933), einem der größten modernen Logiker. Auch wenn man eine gewisse Menge an fortgeschrittener Logik benötigt, um Tarskis Theorie angemessen darzustellen, so ist doch eine der wesentlichen Ideen, die Idee der „Disquotation", einfach zu erklären. Nehmen Sie irgendeinen Satz, etwa: Schnee ist weiß.
Setzen Sie ihn in Anführungszeichen:
    „Schnee ist weiß."
Nun setzen Sie die Worte <ist wahr> hinzu:
    „Schnee ist weiß" ist wahr.
Der sich ergebende Satz selbst ist dann und nur dann wahr, wenn der ursprüngliche Satz wahr ist. Des weiteren kann er dann und nur dann behauptet werden, wenn der ursprüngliche Satz behauptet werden kann; er hat eine Wahrscheinlichkeit von r dann und nur dann, wenn der ursprüngliche Satz Wahrscheinlichkeit r besitzt etc. Tarski, Carnap, Quine, Ayer und ähnlichen Theoretikern zufolge bildet das Wissen um diese Tatsache den Schlüssel zum Verstandnis der Worte <ist wahr>. Kurz, urn P ist wahr zu verstehen, wobei P ein Satz in Anführungszeichen ist, <disquotiere> man P: Entferne die Anführungszeichen (und lösche <ist wahr>).
Was bedeutet
    „Schnee ist weiß" ist wahr.
zum Beispiel? Es bedeutet
    Schnee ist weiß
Was bedeutet
    „Es gibt eine Außenwelt" ist wahr?
Es bedeutet
    es gibt eine Außenwelt.
Und so fort.
    Die Theoretiker der <Disquotation> behaupten, daß eine Antwort auf die Frage: „Was bedeutet es zu sagen, daß etwas wahr ist?" nicht zu einer Ansicht verpflichten muß, was dieses Etwas wiederum bedeutet oder wie es verifiziert oder nicht verifiziert werden kann. Man kann eine materialistische Interpretation von „Schnee ist weiß" haben; man kann glauben, daß „Schnee ist weiß" verifizierbar ist oder daß es bloß falsifizierbar, aber nicht verifizierbar ist; oder daß es nur zu einem Grad zwischen null und eins bestätigt werden kann: oder nichts von alledem - aber "Schnee ist weiß" kann nach wie vor genauso behauptet werden wie „<Schnee ist weiß> ist wahr". Dieser Ansicht zufolge ist <wahr> erstaunlicherweise, ein philosophisch neutraler Begriff. <Wahr> ist nur ein Mittel zum <semantischen Aufstieg>: für das <Erheben> von Aussagen von der Objektsprache zur ,Metasprache; und das Mittel erlegt einem keinerlei epistemologische oder metaphysische Verpflichtungen auf.
    Wir werden nun den zweiten Leitgedanken von Tarskis Theorie skizzieren. <Wahr> ist hier ein Prädikat von Sätzen, und wenn die Theorie präzise werden soll, müssen diese aus einer formalisierten Sprache S stammen. (Wie man die Theorie auf natürliche Sprachen ausdehnen kann, ist heute unter Philosophen und Linguisten ein Thema von großer Bedeutung.) Nun hat eine <Sprache> in diesem Sinn eine endliche Anzahl von undefinierten oder <primitiven> Prädikaten. Der Einfachheit halber werden wir annehmen, unsere Sprache S habe nur zwei primitive Prädikate: <ist der Mond> und <ist blau>. Für Prädikate P kann der Ausdruck
    P referiert auf x
(dessen enge Verbindung mit dem Wort <wahr, herausgestellt werden kann, in dem man den Ausdruck <ist wahr von>) anstelle von <referiert auf> einsetzt,
    P ist wahr von x)
auch unter Verwendung der Idee der Disquotation erklärt werden: Wenn P das Prädikat <ist der Mond> ist, dann erhalten wir:
    <Ist der Mond> referiert auf x dann und nur dann, wenn x der Mond ist.
Und wenn P das Prädikat <ist blau> ist, dann erhalten wir:
    <Ist blau> referiert auf x dann und nur dann, wenn x blau ist.
Also ist die <metasprachliche> Prädikation:
    <Ist der Mond> referiert auf x
äquivalent zu der <objektsprachlichen> Prädikation:
    x ist der Mond.
    Wir werden sagen, P referiert primitiv auf x, wenn P ein primitives Prädikat ist (im Fall unserer Sprache S , <ist der Mond> oder <ist blau>) und P auf x referiert. Primitive Referenz kann dann für unser bestimmtes Beispiel S durch eine Liste definiert werden:

Definition:
P referiert primitiv auf x dann und nur dann, wenn gilt:
(1) P ist der Ausdruck <ist der Mond> und x ist der Mond oder
(2) P ist der Ausdruck <ist blau> und x ist blau.
Und für jede einzelne formalisierte Sprache kann eine ähnliche Definition der primitiven Referenz gegeben werden, sobald eine Liste der primitiven Prädikate dieser Sprache zur Verfügung steht.
    Das übrige von Tarskis Idee benötigt Logik und Mathematik zu einer ordentlichen Erklärung. Wir werden jetzt sehr skizzenhaft arbeiten.
    Die nicht-primitiven Prädikate einer Sprache werden aus dem primitiven mit Hilfe von diversen Mitteln gebaut: Wahrheitsfunktionen und Quantoren. Um des Beispiels willen sei angenommen, daß die einzigen Mittel Disjunktion und Negation sind, welche aus dem Prädikat P die Prädikate , <P oder > und <nicht-P> bilden. Wir definieren dann Referenz wie folgt:
(I) Enthält P null logische Junktoren, dann referiert P auf x, wenn P primitiv auf x referiert.
(II) P oder Q referiert auf x, wenn P auf x referiert oder Q auf x referiert.
(III) Nicht-P referiert auf x, wenn P nicht auf x referiert.
Bei der Wendung dieser induktiven Definition in eine explizite kommt viel formale Logik ins Spiel; es soll hier genügen zu sagen, daß dies machbar ist. Das Ergebnis ist eine Definition von <Referenz> für eine bestimmte Sprache, eine Definition, die keine semantischen Worte verwendet (keine Worte aus derselben Familie wie <wahr> und <referiert>).
    Tarski hat im wesentlichen die von Frege erfundene Technik der Definition des Vorgängers F* einer Relation F, dazu verwendet, um solche <induktive> Definitionen in die Form expliziter Definitionen zu bringen. Diese Technik erfordert es, über beliebige Mengen und Relationen im Gegenstandsbereich der Sprache zu quantifizieren, für welche <Wahrheit> definiert wird; die explizite Definition von <wahr in S> wird also stets in einer Sprache formuliert, die eine stärkere Mengenlehre besitzt als S selbst.
    Nehmen wir schließlich an, unsere einfache Sprache ist derart einfach, daß alle Sätze eine der Formen Für alle x, Px, Für einige x, Px haben oder Wahrheitsfunktionen von diesen darstellen (wobei P ein Prädikat ist), so würde wahr wie folgt definiert (natürlich hat Tarski in Wirklichkeit viel reichere Sprachen betrachtet):
(I') Für alle x, Px ist wahr dann und nur dann, wenn für alle x, P referiert auf x.
(II') Für einige x, Px ist wahr dann und nur dann, wenn für einige x, P referiert auf x.
(III') Wenn p und q Sätze sind: p oder q ist wahr, wenn p wahr ist oder q wahr ist; und nicht-p ist wahr, wenn p nicht wahr ist.
Wir haben die Mathematik von Tarskis Arbeit ausgelassen (wie man eine <induktive Definition> wie die obige in eine <explizite> Definition der Form „etwas ist wahr dann und nur dann, wenn ..." verwandelt, wobei <wahr> und <referiert> nicht in <...> vorkommen), und wir haben die immensen Komplikationen ignoriert, die auftreten, wenn die Sprache Relationen hat - zweistellig (oder dreistellige etc.) Prädikate. Währenddessen haben wir uns bemüht, drei Vorstellungen zu vermitteln:
(1) <Wahrheit> und <Referenz> werden für eine bestimmte Sprache zu einer Zeit definiert. Wir definieren nicht die Relation <wahr in S> für variable S.
(2) Primitive Referenz wird <durch eine Liste> definiert. Referenz und Wahrheit im allgemeinen werden durch Induktion über die Anzahl der Junktoren im Prädikat oder Satz definiert, beginnend mit primitiver Referenz.
(3) Die induktive Definition durch ein System von Sätzen wie (I), (II), (III), (I'), (II') (III') kann mit Hilfe technischer Mittel aus der Logik zu einer <expliziten Definition> bona fide gemacht werden.
Als eine Probe für die Richtigkeit dessen, was bis hierhin geleistet wurde, ist es einfach, das folgende Theorem aus der Definition von <wahr> abzuleiten:
    „Für einige x, x ist der Mond", ist wahr dann und nur dann, wenn, für einige x, x ist der Mond.
Und man kann tatsächlich aus der Definition von wahr ableiten, daß:
    (W) <P> ist wahr dann und nur dann, wenn P,
wobei der Strohmann <P> durch irgendeinen Satz unserer Sprache S ersetzt wird.
    Es ist Tarskis <Adäquatheitskriterium, (das berühmte <Kriterium (W)>) für Definitionen von <ist wahr>, daß dies der Fall sein soll - daß alle Instanzen des obigen Schemas (W) aus der Definition von <wahr> folgen.
    Man beachte, daß Tarskis Theorie offensichtlich alles andere als trivial ist, während die Idee der Disquotation zunächst trivial erscheinen mag. Der Grund hierfür liegt darin, daß die Idee der Disquotation uns nur sagt, das Kriterium (W) sei korrekt - aber nicht, wie man <wahr> so definiert, daß das Kriterium (W) erfüllt sein wird. Ebensowenig erlaubt Disquotation allein, <wahr> aus allen Kontexten zu entfernen, in denen es auftaucht. „Schnee ist weiß" ist wahr ist äquivalent mit Schnee ist weiß; aber mit welchem Satz, der das Wort wahr, nicht enthält (oder irgendeinen anderen <semantischen> Ausdruck), ist der folgende Satz äquivalent: Wenn die Prämissen eines Schlusses der Form: p oder q, nicht-p, also q, beide wahr in S sind, dann ist die Konklusion ebenfalls wahr in S. Tarskis Theorie liefert uns eine Äquivalenz zu diesem Satz und zu anderen Sätzen, in denen <ist wahr> mit Variablen und Quantoren vorkommt; und das ist es, was Disquotation allein nicht leistet.

Davidson über Wahrheit und Bedeutung

Der soeben beschriebenen Ansicht zufolge macht es keine besonderen Schwierigkeiten, philosophische oder andere, das Wort <wahr> zu verstehen. In dem Satz zum Beispiel „Schnee ist weiß" ist wahr wird die Bedeutung des Wortes wahr durch jede Definition von <wahr im Deutschen> erfaßt, die Tarskis Kriterium (W) erfüllt, das heißt die Äquivalenzen der Form erzeugt:
    „Schnee ist weiß" ist wahr dann und nur dann, wenn Schnee weiß ist.
„Tarski folgende Philosophen sind geneigt zu argumentieren: „Natürlich verstehen Sie <Schnee ist weiß>" (tun Sie es nicht, dann haben Sie nicht nur mit den (semantischen Worten wie <wahr> und <referiert, ein Problem), „und wenn Sie wissen, daß <Schnee ist weiß> ist wahr mit <Schnee ist weiß> äquivalent ist, dann wissen Sie alles, was Sie wissen müssen, um <Schnee ist weiß> ist wahr zu verstehen."
    Was auch immer dies für Vorzüge als Antwort auf philosophische Probleme mit Wahrheit haben mag, die Idee ist sicherlich, die nicht-semantischen Ausdrücke (die deskriptiven Worte der Objektsprache und das logische Vokabular) als verstanden anzunehmen und diese nicht-semantischen Ausdrücke (und eine Mengenlehre, die stärker ist als irgendeine derjenigen, die in der Objektsprache zur Verfügung stehen) zur Erklärung der Bedeutung von <wahr> zu verwenden. Donald Davidson hat in einer einflußreichen Reihe von Aufsätzen eine interessante Umkehrung dieser Prozedur vorgeschlagen.
    Angenommen, wir formalisieren das Deutsche (oder einen passenden Teil des Deutschen) und geben für die daraus hervorgehende Sprache eine Wahrheitsdefinition à la Tarski. Dies wird alle Sätze der Form
    <P> ist wahr dann und nur dann, wenn P
als Theoreme ergeben, so zum Beispiel wieder einmal:
    (a) „Schnee ist weiß" ist wahr dann und nur dann, wenn Schnee weiß ist.
Diese Wahrheitsdefinition muß nicht im Deutschen (bzw. in einer in der Mengenlehre verstärkten Version) formuliert werden; sie könnte auch im Englischen (plus ausreichend Mengenlehre) gegeben werden. In diesem Fall wird die Wahrheitsdefinition alle Sätze der Form
    <P> is true if and only if P'
erzeugen, wobei P' die englische Übersetzung des deutschen Satzes P ist. Zum Beispiel:
    (b) „Schnee ist weiß" is true if and only if snow is white.
Nun stelle man sich einen Sprecher des Englischen vor (Charles), der kein Deutsch kann, dem aber (b) mitgeteilt wird. Versteht er den Begriff der Wahrheit (d. h . weiß er, was <true> bedeutet), so wird (b) ihm die Bedeutung des deutschen Satzes „Schnee ist weiß" sagen. Würde man ihm die Wahrheitsdefinition für das Deutsche geben, dann könnte er daraus einen Satz der Form <P> is true if and only if P' (einen <W-Satz>) ableiten, der jedem Satz P des Deutschen entspricht, und so herausfinden, was jeder Satz des Deutschen bedeutet. (Das heißt nicht, daß dem Sprecher des Englischen die unendliche Liste aller W-Sätze gegeben werden müßte; was ihm gegeben wird, ist die Wahrheitsdefinition, und das ist eine endliche explizite Definition.)
    Im Grunde genommen besteht Davidsons Idee darin, Tarskis Argumentation umzukehren. Anstatt die Objektsprache als verstanden zu nehmen und <wahr> als das Wort, dessen Bedeutung erklärt werden soll, nimmt Davidson die Objektsprache als das, was erklärt werden soll, und <wahr> (oder was auch immer das Wort für Wahrheit in der Sprache sein mag, in welcher die Erklärung gegeben werden soll) als das bereits Verstandene. Auf diese Weise kann jede Wahrheitsdefinition für eine Sprache (im Tarskischen Sinn) als eine Bedeutungstheorie für diese Sprache angesehen werden.
    Davidson geht noch weiter und behauptet die Umkehrung: Jede Bedeutungstheorie für eine Sprache, das heißt jede endliche Beschreibung, welche Bedeutungen für die unendlich vielen Sätze der Sprache projektiert, ist implizit eine Wahrheitsdefinition für die Sprache, und die explizite Tarski-Form ist die ideale Form für formalisierte Bedeutungstheorien. Wir werden diese Ansichten hier nicht diskutieren, auch wenn sie ein faszinierendes Nebenprodukt der Diskussion des Themas Wahrheit durch Logiker und Philosophen darstellen.
    Die Frage, die hier von Interesse ist, ist folgende: Was ist die Relevanz eines solchen Begriffs von Bedeutungstheorie oder einer solchen Auffassung von der Verbindung zwischen Wahrheitstheorie und Theoie der Bedeutung für die Natur des Verstehens?
    Davidson zögert nicht mit seiner Antwort auf diese Frage: Wenn die Theorie der Bedeutung einer Sprache just die Wahrheitsdefinition für diese Sprache ist, dann, so meint er, wird das Verstehen eines Muttersprachlers am besten als ein implizites Kennen dieser Wahrheitsdefinition beschrieben. Eine natürliche Sprache (oder auch eine formalisierte Sprache) zu verstehen heißt, die rekursiv e Wahrheitsdefinition für diese Sprache implizit zu kennen; denn es ist diese Rekursion, welche jedem einzelnen der unendlich vielen Sätze der Sprache Wahrheitsbedingungen zuweist.
    An diesem Punkt mag es so aussehen, als ob man uns nichts weniger als die Korrespondenztheorie der Wahrheit an die Hand gegeben hätte. Die Wahrheitsdefinition für das Deutsche sagt Charles, daß „Schnee ist weiß" dann und nur dann wahr ist, wenn Schnee weiß ist (auch wenn Charles diesen Gedanken auf englisch und nicht auf deutsch hat, wenn er jenen Satz denkt, den wir als (b) geschrieben haben). Also kann Charles die Frage beantworten, welcher Sachverhalt dem deutschen Satz „Schnee ist weiß" entspricht, indem er sagt, „daß Schnee weiß ist" (oder auf Englisch, „that snow is white"). Es scheint so zu sein, daß jeder deutsche Satz einem Sachverhalt entspricht, der bestehen muß, wenn der deutsche Satz wahr sein soll (und die Wahrheitsdefinition sagt uns, welchem). Und das Verstehen des deutschen Satzes scheint (wenn Davidson recht hat) im Erfassen der Bedingungen dafür zu bestehen, daß der Satz wahr ist, oder vielmehr im Erfassen der Definition, die einen W-Satz erzeugt, welcher diese Bedingung spezifiziert. Kann es denn sein, daß es Tarski und Davidson gemeinsam gelungen ist, die Korrespondenztheorie der Wahrheit zu rechtfertigen und zu erklären?
 

Literatur: Hilary Putnam, Referenz und Wahrheit, 1980