Blutner/Hauptfragen der Sprachphilosophie


    Was ist Wahrheit?


                Da fragte Pilatus ihn: Also bist Du doch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört auf meine Simme. Da sagte Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit?    JOHANNES 18.37
     
    Korrespondenztheorien
    Die klassische Korrespondenztheorie (Adäquationstheorie) der Wahrheit läßt sich in etwa wie folgt formulieren:
      Eine Aussage ist wahr genau dann, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt.
    Damit ist allerdings nicht viel gewonnen, da es ganz im Dunkeln bleibt, was es heißen soll, daß eine Aussage mit der Wirklichkeit übereinstimmt.

    Dem polnischen Logiker Alfred Tarski ist es gelungen, eine Version der Korrespondenztheorie zu formulieren, die er selbst als „eine formal korrekte und sachlich zutreffende semantische Definition des Ausdrucks wahre Aussage" bezeichnet. Bis auf den heutigen Tag ist diese Theorie eine der wenigen logisch-philosophischen Theorien geblieben, die allgemeine Anerkennung gefunden haben.

    Auch wenn die angemessene Darstellung dieser Theorie eine Menge fortgeschrittener Mathematik verlangt, so sind die wesentlichen Ideen doch relativ einfach darzustellen und werden in der Vorlesung in folgender Reihenfolge erörtert:
     
    (1) Objekt- und Metasprache. Die Idee der Quotierung (metasprachliche Zitierung von Ausdrücken der Objektsprache)
    (2) Das Prinzip W
           „S" ist wahr dann und nur dann, wenn S, 
           wobei der Platzhalter S durch irgendeinen Satz unserer (Objekt-)Sprache L ersetzt wird.
    (3) Rekursive Definition für „S" ist wahr.
    (4) Nachweis, daß diese Definition das Prinzip W erfüllt.

    Kurz, um P ist wahr zu verstehen, wobei P ein Satz der Objektsprache ist, suche man einfach die metasprachliche Entsprechung von P auf, hier p genannt. P ist wahr heißt dann nichts anderes als p. Was bedeutet „SCHNEE IST WEIß" ist wahr? Es bedeutet Schnee ist weiß. Die einfache Beobachtung, die dem zugrunde liegt, ist daß „SCHNEE IST WEIß" ist wahr dann und nur dann wahr ist wenn Schnee ist weiß wahr ist. Desweiteren kann ein Satz wie „SCHNEE IST WEIß" ist wahr dann und nur dann behauptet werden, wenn der Satz Schnee ist weiß behauptet werden kann. Man beachte, daß wir uns zur Formulierung der letzten Sentenzen in der Metametasprache bewegen mußten.

    Ein erstaunliches Resultat dieser Auffassung ist, daß der Begriff wahr als ein philosophisch neutraler Begriff erkannt wird. „Wahr ist nur ein Mittel zum semantischen Aufstieg: für das Erheben von Aussagen von der Objektsprache zur Metasprache; und das Mittel erlegt einem keinerlei epistemologische oder metaphysische Verpflichtungen auf" (Putnam 1980).
     

    Ein Beispiel zur Illustration der Methode von Tarski
    Objektsprache:
    Terme: FIDO, EMIL
    Prädikate: IST SATT, IST HUNGRIG
    Junktoren: UND, ODER
    Bildungsregeln:
    R1: Ist T ein Term und P ein Prädikat, dann ist TP ein Satz
    R2: Sind A und B Sätze, dann sind auch A UND B, A ODER B Sätze

    Beispiele für Sätze der Objektsprache sind:
    FIDO IST SATT
    FIDO IST SATT ODER EMIL IST HUNGRIG

    Metasprache:
    Unsere natürliche Sprache, angereichert mit den Ausdrucksmitteln der (naiven) Mengenlehre. In der Metasprache kann ich auf die Zeichen der Objektsprache verweisen. Z.B. kann ich sagen, daß „FIDO" der Name für Fido ist oder daß der Satz „FIDO IST SATT" wahr ist. Da durch die Verwendung von Großbuchstaben Konfusionen zwischen Objekt- und Metasprache ausgeschlossen werden, wollen wir die Quotierungszeichen „..." im Folgenden weglassen.

    Übersetzungsregeln:
    Zur Formulierung der Übersetzungsregel benutze ich die „Bezeichnungsfunktion" [| ... |],
    z.B.: [| FIDO |] = Fido (lies: „FIDO" bezeichnet Fido).

    Terme:
    [| FIDO |] = Fido; [| EMIL |] = Emil
    Prädikate:
    [| IST SATT |] = {x: x ist satt}; [| IST HUNGRIG |] = {x: x ist hungrig}
    Sätze:
    Ist P ein Prädikat und T ein Term, dann gilt:
    PT ist wahr genau dann, wenn [| T |] e [| P |].
    Sind A und B Sätze, dann gilt:
    A UND B ist wahr genau dann, wenn A ist wahr und B ist wahr
    A ODER B ist wahr genau dann, wenn A ist wahr oder B ist wahr

    Es kann nun leicht bewiesen werden, daß für alle Sätze der Objektsprache, das Tarskische Prinzip W gilt. Z.B. gilt:
    FIDO IST SATT ist wahr genau dann wenn Fido satt ist
    FIDO IST SATT ODER EMIL IST HUNGRIG ist wahr genau dann wenn Fido satt ist oder Emil hungrig ist

    Kohärenztheorien
    Die Explikation von Tarski leistet eine Definition des Begriffs ist wahr. Die Frage nach dem Kriterium (oder den Kriterien) der Wahrheit bleibt damit allerdings offen. Wie ich praktisch entscheiden kann, ob ein Satz oder eine Aussage wahr ist ergibt sich nicht notwendig aus dem Verständnis des Wahrheitsbegriffs. Im gleichen Sinne wie mir eine (zutreffende) Definition von Gold noch keine Prüfmethode für das Herausfinden von Gold bereitstellt, so liefert eine Definition von Wahrheit noch keine Methode zum Herausfinden wahrer Aussagen. Und „der Höfling weiß ganz genau, was es bedeutet, in der Gunst des Königs zu stehen. Er will wissen, wie man das erreicht." (N. Rescher).

    Die Korrespondenztheorie der Wahrheit zielt auf die Klärung des Begriffs Wahrheit. Theorien, die auf Bestätigungskriterien oder Prüfmethoden für wahre Aussagen abzielen, werden Kohärenztheorien der Wahrheit genannt. In den frühen Kohärenztheorien des Wiener Kreises lief es darauf hinaus, daß man im Sinne einer „Konventionstheorie" der Wahrheit eine widerspruchsfreie Menge von „Protokollsätzen" als wahr akzeptierte und dann die Wahrheit der anderen Sätze durch die logische Verträglichkeit mit dieser widerspruchsfreien Menge bestimmt.

    Eine andere Auffassung (vgl. Rescher 1973) geht davon aus, daß wir mit einer Menge M von Daten konfrontiert sind, die nicht notwendigerweise miteinander konsistent sind. Daraus eine widerspruchsfreie Menge zu bilden, die man als Fakten über den Gegenstandsbereich ansehen kann, ist nach dieser Betrachtungsweise das Hauptsproblem der Kohärenztheorie. Das Problem der Wahrheitsbestimmung wird zu einem Ordnungsproblem: Ordnung ist in ein Chaos ursprünglicher Daten zu bringen, "in dem sichere Evidenz und dürftige Hypothesen miteinander vermischt sind."
     

    Davidson über Wahrheit und Bedeutung
    Tarski benutzt das Schema W als Adäquatheitsbedingung für die Definition von ist wahr. Diese Theorie mag, abgesehen von der Frage nach der lexikalischen Semantik des Wörtchens wahr, den meisten Linguisten ziemlich irrelevant für ihre Zielstellungen vorgekommen sein. Die Situation hat sich jedoch durch einige einflußreiche Arbeiten von Donald Davidson grundlegend geändert. Davidson hat vorgeschlagen, das Schema W von Tarski in einem ganz anderen Sinne zu verwenden. Anstatt die Objektsprache L als verstanden zu nehmen und wahr als das Wort, dessen Bedeutung erklärt werden soll, nimmt Davidson die Objektsprache als das, was erklärt werden soll und ist wahr als das bereits Verstandene. Darüber hinaus ist natürlich auch die Metasprache als verstanden anzunehmen.

    Um sich die Sache klarzumachen, kann man sich einen Sprecher des Deutschen vorstellen, der kein Englisch kann, dem aber für beliebige Sätze S des Englischen so etwas wie das Schema (W) zur Verfügung steht:

      (W) „S" ist wahr genau dann, wenn S' (wobei S' ein Satz der deutschen Metasprache ist)
    Etwa
      (*) „SNOW IS WHITE" ist wahr genau dann, wenn Schnee weiß ist
    Weiß unserer Sprecher, was wahr bedeutet, so wird ihm, so die Vermutung von Davidson, die Erklärung (*) die Bedeutung des englischen Satzes „SNOW IS WHITE" sagen.

    Übrigens erfordert dieses Verfahren nicht, daß dem Sprecher des Deutschen die unendliche Liste aller W-Sätze gegeben werden müßte; was ihm gegeben wird, ist die Wahrheitsdefinition, und das ist eine endliche explizite Definition. Auf diese Weise kann, so Davidson, jede Wahrheitsdefinition für eine Sprache (im Tarskischen Sinn) als eine Bedeutungstheorie für diese Sprache angesehen werden. Und Davidson geht noch weiter, indem er auch die Umkehrung behauptet: „ Jede Bedeutungstheorie für eine Sprache, das heißt jede endliche Beschreibung, welche Bedeutungen für die unendlich vielen Sätze der Sprache projektiert, ist implizit eine Wahrheitsdefinition für die Sprache, und die explizite Tarski-Form ist die ideale Form für formalisierte Bedeutungstheorien." Auf Schwierigkeiten, Modifikationen und Hintergründe dieser Denkweise komme ich an späterer Stelle zurück.


    Literatur

  • Kutschera, F.v.  (1993): Sprachphilosophie. Wilhelm Beck Verlag München. Abschn. 2.1.6: Der Wahrheitsbegriff der realistischen Semantik [120KB, pdf]
  • Tarski, A (1936): Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten  Sprachen. Studia philosophica 1. Nachgedruckt in: K. Berka & L. Kreiser, Logiktexte,  Akademieverlag Berlin (1971)
  • Tarski, A (1944): Die semantische Konzeption der Wahrheit und die Grundlagen der Semantik. Nachgedruckt in Skirbekk (Hrg.)
  • Putnam, H. (1980): Referenz und Wahrheit. Nachgedruckt in Putnam. Online als [html]
  • Rescher, N. (1973): Die Kriterien der Wahrheit. Nachgedruckt in  Skirbekk (Hrg.)

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